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Welt ohne Stromzurück zur Unterhaltungsseite Wenn das Stromnetz zusammenbricht, ist das mehr als ein technischer Defekt. Das Zusammenleben der Menschen ist schon bei kurzem Totalausfall «total» betroffen, wie die Blackouts in Italien und den USA gezeigt haben. Wie erst würde es sein, wenn der Ausnahmezustand andauert? Der Göttinger Soziologe Wolfgang Sofsky beschreibt es. Morgens ist es in dem Mietshaus merkwürdig still. Kein Wecker klingelt, kein Radio, kein Fernseher tönt durch die Wände. Aus der Dusche kommen kalte Wasserstrahlen; Toaster, Kaffeemaschine und Elektroherd funktionieren nicht. Der Kühlschrank surrt nicht, die Uhr zeigt die Zeit nicht mehr an. In den Zimmern herrscht Dämmerlicht, die Fenster gegenüber sind alle dunkel. Die Telefonleitung ist tot, auch mit dem Handy ist niemand zu erreichen. Offenbar ist der Vermittlungsrechner für das Funknetz ausgefallen. Im Treppenhaus flüstern die Menschen leise, als müssten sie ihre Lautstärke dämpfen. Unversehens sind viele Menschen von der Aussenwelt abgeschnitten. Die Medien schweigen. Der Pfad ins Internet ist versperrt. Nur wenige haben für das alte Kofferradio Batterien in Reserve. Die Welt zieht sich zusammen, auf das Haus, die Wohnung. Aber im Interieur ist nichts, wie es war. Die Haustechnik ist vollständig ausgefallen. Sie ist ohne Wert und Funktion. Vergeblich versucht man, die Geräte einzuschalten, aufzudrehen, anzustellen. Es ist, als sollte die sinnlose Wiederholung der technischen Gesten nur überdecken, dass nichts geschieht. Zunächst vermuten die Menschen eine Panne. In wenigen Minuten dürfte der Spuk vorüber sein. Es ist beruhigend, dass auch die Nachbarn betroffen sind. Der Kontakt zu Verwandten und Freunden jedoch ist abgerissen. Elektrizität sichert den Fortbestand sozialer Beziehungen über weite Entfernungen. Nach einer halben Stunde machen sich die Menschen mit gemischten Gefühlen auf den Weg zur Arbeit. VerkehrSchon in den Aussenbezirken wird es unübersichtlich. An den Bahnhöfen, Metro- und Tramstationen herrscht ungewohntes Gedränge. Kein Zug kommt an, und keiner fährt ab. Die Lautsprecher bleiben stumm. Die Bediensteten sind ahnungslos. Unschlüssig stehen die Passagiere herum und warten. Der gesellschaftliche Zeitplan gerät ins Rutschen. Die Arbeitskräfte gelangen nicht zu ihren Plätzen, Kinder erreichen die Schulen nicht, Termine verstreichen. Einige machen sich zu Fuss auf den Weg. Andere halten Autos an. Die Hilfsbereitschaft ist unerwartet hoch. Menschen, die sonst niemals ein Wort wechseln würden, reden plötzlich miteinander. Wenn die Medien fehlen, schlägt die Stunde des Gesprächs. Der Ausfall der Elektrizität wirkt wie ein Treibstoff für spontane Vergesellschaftung. Auch in den Fahrstühlen und Vorortzügen kommt es zu unerwarteten Wortwechseln. Wer zum Zeitpunkt des Blackouts unterwegs war, steckt nun irgendwo fest. Die automatischen Wagentüren sind nicht zu öffnen. Man muss die Fenster von innen zerschlagen, damit die Atemluft nicht knapp wird. Einige geraten in Panik, über die Sprechanlage ist niemand zu erreichen. In den engen Räumen verteilen sich die Körper neu. In Zwangsgemeinschaften schmelzen die Abstände in dem Masse zusammen, wie die Ausdünstungen zunehmen. So versucht jeder, sich für die nächste Zeit ein kleines Terrain zu sichern. Das Transportsystem ist zusammengebrochen. Sogar mit dem Bus ist kein Fortkommen. Die Strassen sind verstopft, auch auf den bekannten Schleichwegen bewegt sich nichts mehr. Sämtliche Ampeln sind ausgefallen. Von der Obrigkeit ist nichts zu sehen. Von einer Minute zur anderen ist auf den Kreuzungen die Verkehrsordnung aufgehoben. Die mobile Gesellschaft ist zum Stillstand gekommen. In den Büros wissen die Angestellten nichts Rechtes mit der Arbeit anzufangen. Computer und Telefon sind nicht zu gebrauchen. So rasch kann keine Verwaltung zur alten Papierarbeit zurückkehren. In den Fertigungshallen verzögert sich die Arbeit. Die Notfallaggregate produzieren einen Höllenlärm. Aber sie sind zu schwach, um alle Prozesse wie geplant in Gang zu halten. In den Schlachthöfen ist die Arbeit ebenfalls unterbrochen. Das Fleisch in den Kühlhallen beginnt aufzutauen. Millionen Rinder, Schweine und Hühner verdanken dem Stromausfall die Verlängerung ihres Lebens. In den Krankenhäusern sind alle Generatoren angestellt. Der Sprit reicht jedoch nur für ein paar Stunden. Ohne Nachschub wird der Betrieb der Küchen und Intensivstationen, der Röntgenmaschinen und der Narkosegeräte in den Operationsräumen unter Tage bald eingestellt. Am Nachmittag sind Batterien, Kerzen und Gasflaschen überall ausverkauft. In den Supermärkten bilden sich lange Schlangen. Die Kassiererinnen behelfen sich mit Taschenrechnern, Handzetteln und Kugelschreibern. Quittungen gibt es nicht. Käufe mit Kreditkarten sind unmöglich. Die Fleisch- und Fischtheken sind bereits ausgeräumt. Früher oder später wird der Stromausfall zu einer Nasenfrage. Das Bargeld beginnt knapp zu werden. Viele Banken haben geschlossen, die Geldautomaten sind ausser Betrieb. Am Abend treffen sich einige Bekannte in einer Küche mit Gasherd. Die Stimmung ist aufgekratzt. Jeder hat etwas zu erzählen. Gerüchte werden ausgetauscht, erörtert, verworfen oder weiter ausgesponnen. Man weiss nicht, was man glauben soll, und man weiss nicht, was man am nächsten Tag tun soll. Die Nachrichten sind noch immer widersprüchlich. Fernsehbilder gibt es nicht. Trotzdem wird niemand diesen Tag vergessen. DunkelheitIn der Nacht herrscht triste Dunkelheit. Keine Strasse, kein Fenster ist beleuchtet, nirgendwo grellbunte Neonschilder oder Werbeflächen. Die Menschen meiden den öffentlichen Raum. Kinos, Theater, Restaurants, sogar die Bordelle sind geschlossen. Es ist, als sei die Welt in eine frühere Zeit zurückversetzt worden. Scheinwerfer huschen die Häuserwände entlang. Hier und da sieht man hinter den Vorhängen flackernde Kerzen oder den wandernden Lichtkegel einer Taschenlampe. Polizeiwagen fahren Patrouille. Im Katastrophenstab wird erwogen, den Notstand auszurufen. Noch ist die öffentliche Ordnung nicht in Gefahr. Es ist noch keine nächtliche Ausgangssperre verhängt. Im Viertel läuft keine Bürgerwache Streife. Das Verbrechen benötigt ohnehin nicht mehr den Schutz der Finsternis. Ein paar zertrümmerte Fensterscheiben, ein ausgeraubter Juwelierladen, ein Einbruch im Kiosk nebenan - mehr geschieht in der ersten Nacht nicht. Dafür wird neun Monate später die Geburtenrate sprunghaft ansteigen. Am Morgen darauf bleiben die meisten Menschen zu Hause. Im Ernstfall fühlt man sich in den eigenen vier Wänden am sichersten. Lautsprecherwagen fordern die Anwohner dazu auf, Ruhe zu bewahren. Die nötigen Einkäufe erledigt man rascher als sonst. An zwei öffentlichen Orten jedoch versammeln sich die Menschen: vor dem Rathaus und in den Kirchen. In den Zentren der weltlichen und geistlichen Autorität suchen sie die Nähe der anderen, die parallele Gestimmtheit in der wartenden Masse. Nicht Angst bestimmt die kollektive Gemütslage, sondern Verstörung. Am vierten Tag sieht man die ersten offenen Feuer an den Strassenecken. Flinke Köche haben ohne Gewerbeschein Grillgeräte und Gaskocher aufgestellt. Manche kaufen sich die erste warme Mahlzeit seit Tagen. Wenige Schritte weiter bietet ein Schwarzhändler Batterien an. Die Preise sind exorbitant. Es ist ein Geschäft auf die unsichere Zukunft. Mittlerweile ist die Stimmung umgeschlagen. Die Hilfsbereitschaft der ersten Stunden ist einer allgemeinen Reizbarkeit gewichen. Ein falsches Wort provoziert heftige Wortwechsel. Manche flüchten sich in Galgenhumor. Doch Unmut und Misstrauen wachsen. Niemand will den Wandzeitungen an den öffentlichen Gebäuden glauben. Keiner weiss, wie lange dieser Zustand noch dauern wird. Der Zusammenbruch des Stromnetzes ist weit mehr als ein technischer Defekt mit wirtschaftlichen Folgen. Er betrifft die Struktur der Kommunikation, den Austausch der Gesten und Güter, die Bedeutung materieller Objekte, die Ordnung des Raums, die Bewegung der Körper und die Gegenwart der Macht. Der Stromausfall ist ein totales soziales Ereignis. Bis in die Verästelungen der Seele und Sinne wirkt sich die banale Begebenheit aus, bis in die sozialen Gefühle und kollektiven Stimmungen. Es ist eine Katastrophe des Alltags. Gewohnte Bewegungen, Zeitpläne und Ortswechsel sind plötzlich unmöglich. Die Normalität ist ausser Kraft gesetzt. Von einer Sekunde zur anderen sind die Menschen in eine andere Welt katapultiert, eine Welt mit allen Errungenschaften der modernen Zivilisation, aber ohne deren Lebenselixier, die Elektrizität. nach oben |